Als Viktoria geboren wurde, wussten wir nichts von ihrer Fehlbildung. In keinem Ultraschall hat der Arzt etwas gesehen. Daher haben wir auch überhaupt nicht damit gerechnet, zumal es zuvor auch in der Familie noch nicht aufgetreten war.

In der ersten Stunde nach der Geburt war alles ganz normal. Zumindest für uns als Eltern. Viktoria lag in ein Handtuch gewickelt auf meiner Brust, wir haben gekuschelt, wir haben uns kennengelernt. Da ich bei meinem großen Sohn während der Geburt unter Vollnarkose stand und die U1 gar nicht mitbekommen habe, habe ich mir auch nichts dabei gedacht, als die erste Untersuchung auf sich warten ließ. Doch meine Hebamme, die mich durch die Geburt begleitet hat, hatte uns ganz bewusst diese erste Stunde Zeit gegeben.
Erst bei der U1 erfuhren wir vom Kinderarzt und der Hebamme, dass sich Viktorias rechter Arm im Bauch nicht so entwickelt hatte, wie er sollte. Viktorias rechter Unterarm ist deutlich kürzer als der linke, er wächst in einem Bogen und ihr fehlen an der rechten Hand zwei Finger.
Diesen Schock, dieses Gefühl werde ich nie vergessen. Niemand kann einen darauf vorbereiten, im Kreißsaal von einem kranken Baby zu erfahren, wenn doch bei allen Ultraschalluntersuchungen alles unauffällig gewesen ist. Dieses Gefühl, dass einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird, obwohl man doch eigentlich vor Freude weinen sollte.

Und natürlich stellte sich mir auch die Frage, wieso ausgerechnet mein Baby? Total blöd und unsinnig, ich weiß, aber dennoch eine Frage, die seitdem irgendwie ständig in meinem Kopf herumgeistert. Sie ist nicht permanent da, springt aber in manchen Situationen doch wie ein Kobold aus der Kiste. Und auch den ersten Satz des Kinderarztes, dass sie nie mit rechts schreiben können würde, werde ich niemals vergessen, geschweige denn verzeihen. Wie kann man als Arzt nur so unsensibel agieren, wenn die frisch gebackenen Eltern zum ersten Mal von der Behinderung ihres Babys erfahren? Zumal uns zu diesem Zeitpunkt noch niemand sagen konnte, ob sich die Fehlbildung nur auf den Arm beschränkt oder ob noch Organe oder sogar Gehirn und Herz betroffen sind.
Diese Unsicherheit war das Allerschlimmste. Niemand weiß bis heute, was die Ursache gewesen sein könnte. Doch jetzt – mehr als zwei Jahre später – denke ich für mich persönlich, dass es gut war, nichts gewusst zu haben. Sonst hätte ich mir wochenlang Gedanken darüber gemacht, welche weiteren Fehlbildungen oder Behinderungen noch unerkannt geblieben wären. Eine unbeschwerte Schwangerschaft, wie ich sie hatte, wäre dann vollkommen unmöglich gewesen.
Nach Viktorias Geburt wurden alle notwendigen Untersuchungen innerhalb von wenigen Tagen noch im Krankenhaus durchgeführt. Und das Ergebnis war der erste wirklich helle Lichtblick nach dem Schock im Kreißsaal. Mit dem Gehirn, dem Herzen und allen weiteren Organen und Extremitäten ist alles in Ordnung. Viktoria ist kerngesund, die Fehlbildung beschränkt sich tatsächlich nur auf den rechten Unterarm.

In den Tagen nach der Geburt war dennoch nicht klar, welche Finger an der rechten Hand fehlen. Heute wissen wir, dass Viktoria den Daumen, den Zeigefinger und den Mittelfinger hat und auch beide Knochen im Unterarm angelegt sind. Leider hat die Elle bei ungefähr der Hälfte aufgehört zu wachsen, weshalb die Speiche in einem Bogen gewachsen ist und der Unterarm viel kürzer ist als der andere. Dank unserer engagierten Kinderärztin und einem Handchirurgen unseres städtischen Krankenhauses ist Viktoria seit ihrer 5. Lebenswoche bei der Ergo- und Physiotherapie. Nur den Therapeutinnen ist es zu verdanken, dass sie ihren rechten Arm ebenso nutzt, wie den gesunden linken. Die Motorik ist da, der Arm und die Hand sind beweglich und durch das monatelange Tapen mit Kinesiotape konnte das Bogenwachstum der Speiche gebremst werden. Unglaublich, was ein kleines Tape so leisten kann.
Klar sind die ganzen Termine im Wochenbett und während der Elternzeit stressig gewesen. Aber es hat sich gelohnt.
Ich habe Familien kennengelernt, denen diese Therapien vom Kinderarzt trotz Nachfrage nicht verschrieben wurden. Da kann ich nur sagen: Besteht darauf! Je früher damit begonnen wird, desto effizienter sind die Therapien.
Außerdem wurde Viktoria kurz vor ihrem zweiten Geburtstag im katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Hamburg operiert. Die Handchirurgie dort ist die beste des Landes und die Ärztinnen und Ärzte sind einfach klasse. Im Umgang mit den Fehlbildungen und im Umgang mit den Kindern. Ich kann die Klinik nur jeder betroffenen Familie empfehlen. Bei Viktoria wurde die Speiche korrigiert und die Knorpelanlage der fehlenden Elle durchtrennt.
Nun ist der Arm etwas gerader und vor allem das Handgelenk in seiner Bewegung viel freier. Seit der Operation kann sich Viktoria sogar mit rechts etwas in den Mund stecken. Das war vorher undenkbar. Die Medizin kann schon so vieles, man muss sich bloß informieren.
Viktoria ist trotz ihres Handicaps eine kleine Kämpferin und daher haben wir den Namen für sie wohl wirklich richtig ausgesucht!
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